Xsatse berichtet weiter…
Im Laufe der Zeit begann sich die kleine Gruppe der freiwilligen Emigranten in den Höhlen der neuen Welt heimisch zu fühlen. Weil die Oberfläche der fremden Welt von Intelligenzen verschiedener Rassen besiedelt wurde und sie eine Konfrontation mit ihnen vorerst vermeiden wollten, bauten sie die Höhlen zu einem weit verzweigten Tunnelsystem mit einem riesigen Hohlraum aus, in dem schon nach kurzer Zeit eine gigantische Stadt entstand.
Neue Welten wurden geschrieben, eingehend erforscht und viele neue Erkenntnisse und Eindrücke von ihnen mitgebracht. Doch nicht nur das, sondern auch fremde Kunst – und vor allem Bodenschätze fanden bei dem Aufbau der neuen Heimat Verwendung. Dies jedoch waren Dinge, die das frühe Urvolk stets aus ethischen Gründen abgelehnt hatte. Doch in dieser Hinsicht schoben sie nach einiger Zeit alle Bedenken beiseite, denn schließlich mussten sie überleben und ihrem Volk zu neuen Impulsen verhelfen.
Die Stadt unter der Oberfläche wuchs und war prächtiger als alles, was sie jemals zuvor gebaut hatten. Die Bibliothek füllte sich mit den Werken und dem Wissen berühmter Schreiber. Doch auch die alten Welten, deren Verbindungsbücher sie aus der Heimat mitgebracht hatten, wurden nicht vergessen, denn auch dort gab es noch viele Schätze zu entdecken.
Sie besuchten die Kristallwelt der Vorfahren nicht mehr so oft, doch sie vergaßen sie nicht. Das kostbare Erbe der Vergangenheit wurde nun der neu gegründeten Gilde der Bewahrer anvertraut, deren Mitglieder zu den einflussreichsten Persönlichkeiten gehörten. Diese Gilde hatte nur eine einzige Aufgabe, die darin bestand, das Erbe der Ahnen zu hüten…
Doch mit der Zeit traten die alten Wertvorstellungen immer mehr in den Hintergrund und neue Prioritäten wurden gesetzt. Die Macht der Bewahrergilde war inzwischen ins Unermessliche gestiegen und sie galten als die unumschränkten Herrscher über eine mittlerweile große Anzahl von Welten. Eroberungsfeldzüge waren keine Seltenheit mehr und deren einheimische Völker wurden als Arbeitskräfte brutal versklavt, um die Wünsche der neuen Herren nach immer mehr Reichtum zu befriedigen. Vorsichtige Stimmen, die sich mahnend erhoben, wurden kurzerhand abgeurteilt und in Gefängniswelten abgeschoben, aus denen es keine Rückkehr gab. Der Weg zur absoluten Macht der Bewahrer war gezeichnet von Gewalt, Unterdrückung und unsagbarem Leid unter den Völkern.
Doch das Wissen um die Verehrung der Ahnen durch das Volk ließ die Bewahrer um ihre Macht fürchten. So beschlossen sie, über das alte Verbindungsbuch heimlich zur Kristallwelt zu reisen und diese zu vernichten. Doch dieser Plan gelangte durch einen Verrat an die Öffentlichkeit und verursachte einen Sturm der Entrüstung. Einige besonders Mutige schlossen sich zusammen und stahlen das Buch in einer gefahrvollen Aktion. Sie reisten zur Kristallwelt und mussten entsetzt mit ansehen, wie die einst so strahlenden Kristalle teilweise ein graues und glanzloses Aussehen angenommen hatten und über die weiten Ebenen erklang ein leiser, klagender Ton….
Bilder von paradiesisch schönen, friedlichen und vollkommenen Welten entstanden in den Gehirnen der fassungslosen Besucher, um anschließend von blendenden Blitzen umzuckt, auseinander zu brechen oder einfach zu verwehen. Die Botschaft, die davon ausging, war eindeutig… sie hatten die Ahnen verraten und Zerstörung und Verderben über viele einst so friedliche Welten gebracht. Seit Äonen träumten die Ahnen ihren Traum des harmonischen Gleichgewichts zwischen den Welten. Doch nun wurde dieser Traum durch die skrupellose Gier der Bewahrer nach immer mehr Macht empfindlich gestört. Das geheimnisvolle Geistwesen, welches sich mit der fünfdimensionalen Energie der Kristalle vereinigt hatte und über diese auf eine rätselhafte Art und Weise mit den Welten verbunden war, drohte zu erwachen.
Der schöne Traum des Wesens verwandelte sich durch das Ungleichgewicht in den Welten immer mehr zu einem bedrückenden Alptraum, aus dem es jederzeit vollends erwachen konnte. Sollte dies geschehen, und das Urvolk würde mit den schrecklichen Untaten, welche die Nachfahren in den Welten angerichtet hatten, brutal konfrontiert werden…so konnte es die gesamte Energie der Kristalle freisetzen und die Welten in ein furchtbares Chaos stürzen, und vielleicht sogar vernichten. Diese grauenvolle Szenerie raubte den verzweifelten Besuchern den Atem…. Sie würden einen langen Kampf gegen die Bewahrer aufnehmen müssen, um tausendfach begangenes Unrecht wieder gut zu machen und die Harmonie in den Welten wieder herzustellen.
Als sie sich mit dieser Erkenntnis zum Gehen wenden wollten, brach mit einem hell klingenden Ton ein kleines Stück aus einem nahe stehenden Kristallmonolithen heraus und zerbrach zu ihren Füßen in mehrere Teile. Toxtna, der in den Höhlen als Steinmetz arbeitete, bückte sich langsam und sammelte die daumennagelgroßen Kristallsplitter ein. Eine milde, fast lebendige Wärme ging von ihnen aus…gepaart mit einer suggestiven Kraft. Ja…sie würden den aussichtslos erscheinenden Kampf beginnen…
Doch als sie zurückkehrten, wurden sie bereits erwartet und das kostbare Buch ihnen sofort abgenommen. Nur die kleinen Kristalle, die Toxtna in einer der vielen Taschen seines weiten Umhangs trug, fanden sie nicht.
Unter dem massiven Druck der Öffentlichkeit verzichteten die Bewahrer jedoch auf die Vernichtung der Kristallwelt. Stattdessen wurde das Verbindungsbuch dorthin in einer öffentlichen Zeremonie zerstört und es gab fortan keinen Weg mehr zur Welt der Ahnen. Das anschließende starke Beben, welches nach dieser frevelhaften Tat die Höhlen erschütterte, zerstörte einen Grossteil der imposanten Gebäude und traf in der Hauptsache das unschuldige Volk.
Die Gruppe der Drahtzieher des Diebstahls wurde nicht in eine typische Gefängniswelt abgeschoben, sondern man brachte sie nach Cumog - in eine heiße, trockene Welt, deren kümmerliche Vegetation von nur wenigen fruchtbaren Oasen unterbrochen wurde. Sie wurde von mehreren Völkern bewohnt, die jedoch alle von einem mächtigen Magier unterdrückt wurden, der von den Bewahrern freie Hand über diese Welt und seine deprimierten Bewohner erhalten hatte. Der entmutigten kleinen Schar wurde indes alles abgenommen, was sie besaßen und sie mussten sich in der Nähe einer der kleinen Oasen eine neue Existenz mühsam aufbauen. Doch war es unter den Augen des grausamen Magiers sehr schwer, in dieser Wüstenwelt heimisch zu werden. Die Kristallsplitter, die Toxtna, der ehemalige Steinmetz, trotz aller Schwierigkeiten als einzigen Besitz mitgeschmuggelt hatte, wurden gehütet und von Generation zu Generation weitergegeben.
Xsatse schwieg…nach einer Weile sprach er mühsam weiter…
„Ich brauche dir nicht mehr zu sagen, dass du dich hier auf Cumog, der Welt der Verdammten befindest und wir…wir sind die Nachfahren von Toxtna und seinen Freunden. Sicher ist dir inzwischen aufgefallen, dass du uns nur aus den Augenwinkeln richtig wahrnehmen kannst und wir eigentlich nur als Schatten existieren. Dies ist eine Strafe des Magiers, weil wir es gewagt haben, uns gegen seine Unterdrückung aufzulehnen. Wir können von hier aus nichts unternehmen, um unser Volk wieder auf den richtigen Weg zu bringen. Die Bewahrer haben Angst um ihre Macht und greifen zu jedem Mittel, um diese aufrecht zu erhalten. Du, und deine Freunde…hütet euch vor ihnen….“
Irritiert sah Thora Xsatse an…Die Bewahrer! Sie hatten in ihrer Gier nach Macht all das Leid über die Welten gebracht. Sie dachte an Sharie, die in einer ruhigen Stunde fast beiläufig einmal erwähnt hatte, dass es in deren Familie in der Vergangenheit einmal ein Mitglied der Bewahrergilde gegeben hatte. Konnte sie Sharie nun noch trauen? Ja, entschied sie…sie kannten sich nun schon zu lange und Sharie wusste vielleicht über all diese Dinge nichts.
Doch wie sollte sie sich nun Cathy gegenüber verhalten? Cathy gehörte auch jetzt zu dieser Gruppe, deren selbsternannte Macht groteske Formen angenommen hatte. Traurig dachte Thora an die schöne Zeit, die sie gemeinsam mit den Freunden verbracht hatte. Wusste Cathy, was sie tat, wenn sie wieder einmal einen Auftrag im Sinne der Bewahrer zu erledigen hatte? Andererseits war Cathy gegenüber allen anderen war zum Stillschweigen verpflichtet…sonst…Thora wagte nicht an die Folgen für Cathy zu denken… Doch schob sie diese fruchtlosen Gedanken erst einmal zur Seite, als Xsatse wieder sprach…
„Wir sind nur ein kleines Volk und wir sind hier gefangen…unsere einzige Hoffnung seid ihr Forscher, um für unsere Sache zu kämpfen. Es wird für euch ein harter und steiniger Weg und sicher wird es auch Rückschläge geben. Doch denkt daran – wenn unsere träumenden Ahnen erkennen, zu welch einem Preis unser Volk seinen Reichtum erkauft hat – wird dieser Schock die Welten in ein Chaos stürzen, dessen Folgen nicht abzusehen sind. Jeder kleine erfolgreiche Schritt von Euch im Kampf gegen das tausendfach begangene Unrecht kann die Welten jedoch langsam wieder stabilisieren.“
Aus einer der Taschen seines Umhangs zog Xsatse einen kleinen Gegenstand, der an einer schlichten Metallkette hing. Überrascht erkannte Thora einen blaugrün schimmernden, kleinen Kristall, in dessen Facetten sich das weiche Licht brach, welches im Inneren der einfachen Hütte herrschte.
„Bitte nehme den Kristall…solltest du einmal nicht mehr weiterwissen, dann kann er dir helfen. Achte gut auf ihn…irgendwann wird er dich zu seinem Ursprung leiten.“
Er deutete auf die Kette...“Dies ist die beste und sicherste Möglichkeit, ihn ständig bei sich zu tragen. Deshalb haben wir vorgesorgt und es auf diese Art bewerkstelligt…“
Wieder griff Xsatse in seinen Umhang und zog einen kleinen Beutel hervor, der aus einem groben Stoff gefertigt und mit einer stabilen Kordel geschlossen war. Er zögerte nachdenklich, bevor er sprach…
„Wie ich schon sagte, seid ihr unsere einzige Hoffnung…und vielleicht werden wir sogar eines Tages wieder frei sein…vielleicht…mit eurer Hilfe… Deshalb wollen und müssen wir dir vertrauen und geben dir auch die anderen Kristalle, bevor sie der Magier bei uns findet…und das würde er irgendwann mit Sicherheit. Gebe sie an die Freunde weiter, die dein Vertrauen besitzen, denn zusammen könntet ihr stark sein…“
Zögernd streckte Thora die Hand aus und umschloss den weich leuchtenden Kristall. Sanfte Wärme glitt von ihrer Hand durch den Körper und das kaum wahrnehmbare Pulsieren des rätselhaften Kristalls ließ sie erzittern. Langsam schob sie die Kette über ihren Kopf und barg den Kristall unter den Blusenausschnitt auf ihrer Haut. Das kleine Stoffsäckchen, welches ihr Xsatse aufmunternd entgegenstreckte, schob sie in eine ihrer vielen Innentaschen, die sie selbst eingenäht hatte.
„Ich sehe, du bist müde und du brauchst Zeit, um meine Geschichte zu verarbeiten. Auf dem Tisch dort stehen einige Früchte, die wir selbst angebaut haben und auch etwas Wasser aus unserem Brunnen. Danach solltest du ruhen…bevor du zu deinen Freunden weiterreist.“
Xsatse erhob sich, und verließ die kleine Hütte… Thora sah zu den saftigen, frischen Früchten…ja, sie hatte diese Stärkung dringend nötig. Während sie die wohlschmeckenden Früchte genoss, kreisten ihre Gedanken unaufhörlich um das eben Gehörte…sie würde einige Zeit brauchen, um diese Geschichte verkraften zu können. Müde streckte sie sich auf dem harten Lager aus und schlief sogleich ein…
Sie wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, als sie aufschreckte und Xsatse erkannte, der leise den Raum betreten hatte…
„Es ist soweit, Forscherin, der Zeitpunkt für deine Reise ist günstig…
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