Bei den ehemaligen Schattenwesen…(Teil 2)
Das Katzenwesen lächelte und schob eine Hand in den weiten Ärmel der Bluse. „Ich habe sie gerufen…du wirst sie kennen lernen. Sie kommt…Darise…die Schöne… Doch erschrecke sie nicht…sie ist sehr scheu und zierlich…“ Ein leises Singen erfüllte die Luft und durch den feinen Nieselregen flog ein riesiges Wesen mit langsamem Flügelschlag über die Hütten hinweg und setzte am Rande der Lichtung zur Landung an.
Toremal hob stolz die Hand und sagte…“Na, was sagst du nun? Das ist Darise…ist sie nicht schön?“
Thora hielt den Atem an…Zierlich…? Insgeheim musste sie schmunzeln, denn Toremal hatte bewiesen, dass er auch über Humor verfügte. Darise war sicher vier Meter lang…quasi ein Rieseninsekt, wenn man es genau nahm…aber was für eines. Der von einem dichten, festen, samtartigen Flaum bedeckte schlanke Körper bestand aus ringförmigen, biegsamen Gelenken. Die filigranen, transparenten Doppelflügel hatten eine enorme Spannweite. Über den großen Facettenaugen bewegten sich sanft zwei feine Fühler wie Sensoren und unterhalb der Augen schlossen und öffneten sich zwei kräftige Beißzangen.
„Darise…“, sagte Toremal fast zärtlich, „lebt mehr oder weniger freiwillig bei mir. Sie kennt es nicht anders. Doch sie verträgt dieses heiße Klima eigentlich nicht und ich kann nur in den kühleren Nachtstunden mit ihr fliegen. Ich weiß, dass sie leidet. Ihre Heimat ist der Dschungel von Nyruga…doch dort wird ihre Art von den Bewahrern aus reiner Vergnügungssucht gejagt. Dorthin kann sie nicht zurück. Doch hier…“ er deutete auf Thoras Reltobuch…“hier würde sie sich erholen können. Sie braucht nicht viel…nur feuchte Luft, Wasser, Blütennektar und Früchte. Alles das ist in deinem Paradies zu finden.“
Thora musterte das exotische Insektenwesen, welches in dem dünnen Nieselregen nun die Flügel ausbreitete und langsam auf und nieder bewegte. Es war offensichtlich, dass Darise den Regen mit allen Sinnen genoss, während sie, Thora, dieses ästhetisch schöne Bild bestaunte.
Wieder nahm Toremal seine unruhige Wanderung auf, um sie anschließend mit seinen rätselhaften Augen zu fixieren. „Thora…ich sage es noch einmal…ich will frei sein…ich will mein Volk wieder finden, wenn es dieses noch gibt, heißt das. Doch dabei brauche ich Hilfe. Du bist Forscher…du kommst überall hin.“ Nachdenklich hielt er inne…“Schon einmal war ich voller Hoffnung…es ist noch gar nicht so lange her. Ich will es dir erzählen…
Eine Forscherin wie du…Thora…hatte vor einiger Zeit den Weg in diese Welt…nach Cumog gefunden. Sie versprach…mir zu helfen, denn sie war nahe daran, das dunkle Geheimnis der Bewahrer zu lüften. Da sie aus familiären Gründen den Bewahrern jedoch sehr nahe stand, war dies für sie eine schlimme Situation. Sie beging den Fehler, sich einem Familienmitglied anzuvertrauen…Nun kam es zur Katastrophe…denn die Bewahrer wollten mich zwingen, das einzige Wesen, dem ich damals vertraute, auszuschalten. Mit der Drohung, mein Volk auszurotten, wollten sie dies erreichen. Heute vermute ich, dass sie es damals schon längst getan haben. Doch ich habe mich geweigert, meine Kräfte für das, was die Bewahrer planten, einzusetzen.
Man sagte mir…Gut, wenn du es nicht machst, besorgen wir das…und jeder weiß, dass nur du das gewesen sein kannst…
Für dieses Gespräch habe ich Beweise, die du…Thora…gerne zu gegebener Zeit einsehen kannst. Die Forscherin sah ich nie wieder…ich weiß nicht, was sie mit ihr gemacht haben…sie wurde von ihren Familienmitgliedern abgeholt.“
Toremal schwieg, um nach einer Weile leise weiter zusprechen…
„Das habe ich gemeint, als ich sagte, sie verstehen es gut, andere Schuldige für ihre Untaten zu suchen. Doch ich habe nie jemanden etwas Böses getan…ich sollte nur auf die Bewohner dieser Welt achten…auf diese armen Teufel, die in regelmäßigen Abständen hier eintreffen, um fortan in der Verbannung zu leben. Dass ich auch eingekerkert wurde, habe ich viel zu spät bemerkt. Ich weiß auch nicht mehr, seit wann ich hier bin…es muss schon sehr lange sein…Willst du mir nicht helfen, Thora? Ich bin genauso müde wie Darise und ich brauche Zeit, um mich von dieser Höllenwelt zu erholen. Meine Rasse kann nicht auf solch einer Welt wie dieser entstanden sein…das fühle ich.“
Er stockte…und nach einer kleinen Pause sprach er weiter. „Lass mich mit Darise zu deinem Relto gehen…ich brauche Ruhe…ich kann hier nicht mehr…ich bin einfach schon zu lange hier…man hält mich für gefährlich und man will mich vernichten, weil ich über Kräfte verfüge, die sie nicht verstehen…“ Verzweifelt brach er ab…
Lange Zeit schwieg Thora. Sie musste eine Entscheidung treffen. Wenn sie sich weigerte, den beiden fremden Wesen Asyl in ihrem Relto zu gewähren, konnte es sein, dass Toremal sie aus Enttäuschung wieder mit einem Schattenbann belegte und dann würde sie niemals von hier fortkommen. Diese Welt war auch für sie unerträglich und sie wusste immer noch nicht, was aus Sharie geworden war. Sie musste nach Nyruga… Toremal und Darise würden gewiss in ihrem Relto zurechtkommen…es gab in dem Nebelmeer noch eine Menge kleine Inseln, die alles boten, was die beiden benötigten. Und mit Darise hatte Toremal ein einfaches und effektives Transportmittel… und außerdem…dachte sie müde…konnte sie selbst bald eine Pause gebrauchen…sie sehnte sich nach ihrer kühlen Heimat…
Mit einer entschlossenen Bewegung ging sie zu Darise und hielt ihr das geöffnete Reltobuch entgegen. Die Fühler bewegten sich eine Weile unschlüssig hin und her, denn sie konnte nicht wissen, was von ihr erwartet wurde. Nach einigen Versuchen berührte sie mit Toremals Hilfe das flirrende Bild und war nach wenigen Sekunden verschwunden. Fast andächtig hatte das Katzenwesen diese Szene beobachtet…“Es funktioniert…es geht…sie ist fort…“
Mit einem fast schnurrenden, sanften Tonfall sprach er weiter…“Thora…ich glaube, wir werden ein gutes Forscherteam abgeben. Du hast einige rätselhafte Begabungen…ich habe dafür andere. Ich bin davon überzeugt, dass es uns gelingen wird, mein Volk zu finden.“
Einem plötzlichen Impuls folgend griff sie in die Innentasche ihrer Bluse und fühlte nach dem Säckchen mit den Kristallsplittern. Die Tasche war leer…die Kristalle fort… Verwirrt blickte sie zu Toremal, der sie aufmerksam beobachtete. Er hatte ihren verstohlenen Griff zur Tasche richtig gedeutet…
“Ich nehme sie dir nicht weg…ich nehme sie nur mit…du wirst sie brauchen…“sagte er ernst…
Er öffnete die geballte Hand und zeigte ihr den leuchtenden Kristall, dessen Splitter sich zu einem einzigen zusammengefügt hatten. In seinem Inneren befand sich ein winziger Teil eines uralten, weisen Volkes, welches sich vor Äonen dazu entschlossen hatte, das körperliche Dasein aufzugeben und fortan als ein Geistesverbund im Inneren der Kristalle zu leben. Hatte Xsatse nicht gesagt, dass negative Absichten diese einzigartigen Kristalle absterben ließen. Doch sie leuchteten in Toremals Hand…ein Beweis, dass sie ihm vertrauen konnte. Wie hatte er es fertig gebracht, ihr die Kristalle anzunehmen? Über welche Fähigkeiten verfügte dieses rätselhafte Wesen noch?
Wieder hatte sie den unerwarteten Gedanken, ein weibliches Wesen vor sich zu haben… Hatte Toremal ihre Gedanken erraten? Denn sein Gesicht verzog sich zu einem wissenden und schwer zu deutendem Lächeln. Unwirsch schüttelte sie den Gedanken ab und hielt ihm aufmunternd das geöffnete Reltobuch entgegen. Toremal hob die schmale Hand und winkte Xsatse zu, bevor er sie auf das leuchtende Bild legte.
„Ich warte auf dich, Thora, wir werden es gemeinsam schaffen…ich habe dir noch viel zu berichten…“ Die Umrisse von Toremal lösten sich auf und nun stand er neben Darise auf der Wiese in ihrem Relto…in dem blauen Nebel, den es nur dort gab…
Sie jedoch musste nach Nyruga und sie würde sich in Acht nehmen müssen, da diese Welt von den Bewahrern kontrolliert wurde…wie auch immer. „Xsatse, ich habe keine Ruhe mehr…ich werde gehen.“
Xsatse erwiderte lächelnd: „Ich weiß…du bist in Sorge. Doch du wirst nun mitten in der Wüste ankommen…leider weiß ich nicht genau, wo deine Freunde nun sind. Es kann auch sein, dass sie doch schon in der Waldregion sind. Wenn wir zu Kräften gekommen sind, werden wir wieder versuchen, eine Dimensionsfalte aufzubauen…nun wisst ihr ja, was diese bedeuten und wenn ihr wollt, könnt ihr dann wieder nach Cumog kommen.“ Nach einer kleinen Pause fügte er seufzend hinzu…“Wir konnten nicht wissen, dass Toremal im Grunde genommen genau so ein armer Teufel war wie wir.“
„Xsatse…wir sehen uns bestimmt wieder…danke noch einmal für alles! Und noch etwas…ich kann dich ganz normal sehen…sonst konnte ich dich nur aus den Augenwinkeln undeutlich wahrnehmen. Es stimmt…Toremal hat Wort gehalten.“
Das Wesen, welches das Gefühl genoss, kein Schattenwesen mehr zu sein, hob die Hand…“Ja, das hat er und ich fühle mich einfach wunderbar…Ich werde für mich allein versuchen, deine Reise zu Nyruga etwas zu beeinflussen, damit du nicht mitten in der Wüste stehst.“
Thora zögerte plötzlich…“Xsatse… ich habe es mir nun anders überlegt… ich will nach Hause zurückkehren…ich muss mich vergewissern, dass meine Gäste gut angekommen sind. Und ich brauche dringend eine Ruhepause…ich bin einfach nur noch müde...“
Das kann ich verstehen…nach all der Aufregung…“, erklärte Xsatse.
Thora lächelte… öffnete ihr Reltobuch …um in der nächsten Sekunde neben Toremal und Darise zu stehen, die schweigend ihre Heimat bewunderten.
„Du…Thora?“ vernahm sie Toremals überraschte Stimme. „Es ist schön hier…ein Paradies nach dieser langen Qual… mir fehlen die Worte…“Lächelnd musterte sie die beiden fremden Wesen…die hier, in ihrem Relto auf einmal so viel von ihrer Fremdheit verloren hatten…sie hatte richtig gehandelt, dessen war sie nun völlig sicher.
„Ich wollte schauen, ob hier alles in Ordnung ist und ihr auch wohlbehalten angekommen seid. …ich wollte nach Nyruga, doch ich habe mich kurzfristig anders entschieden. Ich hoffe, es gefällt euch hier…und ihr findet euch zurecht… “
„Das wird hier nicht schwer sein…“ murmelte Toremal leise. „Ich glaube, ich werde mit Darise dein Inselreich erkunden…es gibt sicher noch einiges zu entdecken.“
„Dann kommt…ich zeige euch meine Welt….“
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