In Thoras Relto…
Die Tage, an denen der dichte blauweiße Nebel das beherrschende Element in dieser Welt war, gingen heute wieder zu Ende. Träge Dunstschlieren schlängelten sich durch die hohen Gräser und um die blühenden Sträucher, um sich unmerklich und fast widerwillig in Richtung der tiefen Schlucht zurückzuziehen.
Nur noch kurze Zeit… und die Sonne und mit ihr das gleißende Licht, würden den Kampf gegen die fast undurchdringliche Barriere gewinnen. Auf der anderen Seite der Klamm schälten sich gleich transparenten Schemen bereits die schroffen Umrisse des dortigen Plateaus heraus. Einige Greifvögel umrundeten schon den Branaskegel in freudiger Erwartung einer reichen morgendlichen Beute.
In regelmäßigen, immer wiederkehrenden Zeitabständen schob sich der undurchdringliche Nebel unaufhaltsam aus der tiefen Schlucht heran. Er gehorchte einem rätselhaften Naturgesetz und verbarg tagelang alles mit seinen dichten Schleiern, um sich dann wieder in die unerforschte Tiefe des Canyons zurückzuziehen. Nach einem feststehenden Zeitraum begann das Spiel erneut. Dieses faszinierende Naturschauspiel erinnerte Thora fast an das tiefe Ein – und Ausatmen eines riesenhaften Wesens.
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Als endlich der erste Sonnenstrahl den Weg durch den zähen und nur zögernd nachgebenden Dunst fand, verwandelte sich die Wiese in einen golden glitzernden Teppich. In den Myriaden Tautröpfchen brach sich das Licht und schien in jeden einzelnen ein Universum voller unbekannter Geheimnisse und Rätsel zu enthüllen zu wollen.
Tief atmete Thora auf und sah sich mit leuchtenden Augen um. Hier war ihr kleines privates Reich…wie hatte sie diese Welt in ihrer eigentümlichen kühlen Schönheit vermisst! Die fremdartigen Sträucher und Bäume, die sie von ihren ausgedehnten Forschungsreisen mitgebracht und hier mit Erfolg kultiviert hatte, trugen schwer an den Blüten, Früchten und Beeren. Ein wahrhaft reich gedeckter Tisch für die fleißigen Insekten und Vögel…sinnierte sie.
Einige Tage wollte sie hier im Relto bleiben, um ihre jüngsten Erlebnisse bei den Andorranern zu verarbeiten. Gleichzeitig würde sie jedoch bereits die Vorbereitungen für eine neue Reise durch unbekannte Dimensionen treffen, auf der ihr sicher wieder auch einige bekannte und noch unbekannte Forscherfreunde begegneten. Schon allein bei diesem Gedanken geriet sie eine freudige Aufbruchstimmung und sie zweifelte nicht daran, dass neue Abenteuer die vergangenen in den Schatten stellen würden…
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Eine recht umfangreiche, flach gepresste Lichtung im hohen Gras verriet die zeitweilige Anwesenheit eines größeren Wesens…
Sie hob den Blick und sah zur anderen Seite der Schlucht hinüber. Zu den Vögeln, die den Branaskegel umkreisten, hatte sich ein riesiges Geschöpf gesellt, welches mit enormer Flügelspannweite majestätisch langsam seine Runden drehte. Darise…dachte sie bewegt und bewunderte wieder einmal die eleganten Bewegungen des exotischen Wesens. Trotz der Entfernung vermeinte sie den sirrenden Ton zu vernehmen, den Darise gleich einem Gesang stets von sich gab. Besonders in den stillen Nächten trug der Wind die Laute weithin über die Schlucht hinaus ins Land und es schien, als würde alle Welt schweigen, um diesen Tönen zu lauschen.
Nichts hatte sich in ihrer Abwesenheit hier geändert… noch immer befasste sich Toremal, das katzenhafte Wesen, welches sie damals begleitet hatte, mit den umfangreichen Reiseberichten ihres Vaters, die sie ihm zu Studienzwecken allesamt überlassen hatte und noch immer beschäftigte sich Darise mit ihrem einzigen Ei, welches sich warm anfühlte und wenn man genau hinsah, vermeinte man ab und zu unter der dicken, dellenreichen Schale schwache Bewegungen zu erkennen. Wahrlich…das war ein kleines Wunder…
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Aber eigentlich war sie doch so lange gar nicht fort gewesen. Denn gemessen an der Zeit, die sie nach ihrer missglückten Heimkehr in Fantasia…einer Welt von Andromeda verbracht hatte, war ihre anschließende Odyssee bei den Andorranern nur von kurzer Dauer gewesen. Rakoul hatte ihr versichert, dass Jagura, die Heilerin, Andromeda davon in Kenntnis setzen würde, dass Thora wieder in ihrer Heimat weilte.
Rakoul-Var…der Sonnenjäger…die Begegnung mit ihm hatte ihr Forscherleben in den Grundfesten erschüttert. Zum ersten Mal hatte sie sich zweifelnd gefragt, ob das Leben, welches sie führte, richtig war. Noch einmal hatte er sie vor ihrer Abreise von Laugroa gebeten, ihn nach Grumor zu begleiten. Das Dasein auf Grumor versprach abenteuerlich und aufregend zu werden…dafür garantierte schon allein solch ein bizarrer Charakter wie Rakoul.
Einmal mehr hatte sie jedoch abgelehnt und war sich doch darüber im Klaren, dass er ein Teil ihres Lebens geworden war. Gedankenverloren strich sie über den schlichten Einband des Verbindungsbuches nach Eryn, welches Rakoul ihr gegeben hatte. Ja… sie würde gewiss den Weg nach Eryn gehen, um in seiner Nähe die Kraft zu finden, die sie für ihr unruhiges Leben brauchte.
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Langsam schritt sie über die feuchte Wiese ins Haus. Sinnend ruhte ihr Blick auf den Rucksack, den Rakoul bei seinem Testbesuch nach der Restauration ihres Reltobuches hier abgestellt hatte und der die Habseligkeiten enthielt, die sie bei der letzten Exkursion mit den Freunden bei sich getragen hatte.
Erinnerungen drängten sich in den Vordergrund…die lange Suche nach Cathy…das Rätsel der mysteriösen Dimensionsfalten…die fremdartige Pyramide, die sie nur kurz gesehen hatte und gleich darauf wieder aus den Augen verlor…den anstrengenden und gleichzeitig abenteuerlichen Marsch mit Sharie durch unbekanntes Gelände, als sie nicht wussten, was sie an der nächsten Abzweigung erwartete…die überraschende Ankunft von Andromeda…es hatte so viele Rätsel gegeben, die sie nicht gelöst hatten. War ein Mysterium einigermaßen geklärt, so harrten gleich mehrere Neue ihrer Enthüllung.
Überdeutlich sah sie im Geiste das Bild vor sich, als sich die Freunde nach einem langen, gemeinsam erlebten Abenteuer voneinander verabschiedeten, um jeder für sich seinen eigenen Weg zu finden. Was war aus Sharie…was aus Cathy geworden? Was taten sie im Augenblick und wo befanden sie sich? Was machte Andromeda, mit der sie kurze, aber denkwürdige Abenteuer erlebt hatte?
Seufzend öffnete Thora den Rucksack und griff hinein…
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