Ihre Gedanken kehrten aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurück…
Erfrischt stieg sie aus dem kalten Wasser des kleinen, von hohen Felsen umgebenen Teiches und wickelte sich in ein Tuch, welches auf einem flachen Stein zum Trocknen auslag. Rasch sammelte sie ihre Kleidung ein und begab sich über den Hügel zum Haus.
Doch bevor sie es betrat, schweifte ihr Blick noch einmal über das Nebelmeer, aus dem die zahlreichen Felseninseln in der einsetzenden Abenddämmerung wie Realität gewordene Träume hervorragten. Auf dem größten, noch unerforschten Eiland lebte Kharun, der rätselhafte Fremde, welchem sie vor einiger Zeit auf einer spontanen Kurzmission begegnete und anschließend Asyl in ihrem Relto gewährt hatte.
Die Geschichte um Kharun, dem fremdartigen Wesen, war auch etwas, was ihr Kopfzerbrechen bereitete. Sein trauriges Schicksal lag weitgehend im Dunklen und schien doch eng mit den D`ni verknüpft zu sein. Doch war sie dabei nur auf Vermutungen angewiesen, die sie letztendlich keinen Schritt weiterbrachten.
Kharun…der nicht wusste, wo seine Heimat war und auch nicht, welches Schicksal sein Volk erlitten hatte. Sie hatte ihm versprochen, dass sie sich gemeinsam auf die Suche begeben würden. Doch vorerst brauchte er noch viel Zeit, um sich von seinem unfreiwilligen, langen Aufenthalt in der Wüste von Hömun-yak zu erholen. Wie lange er dort schon ausgeharrt hatte und vor allem, wie er dort hingekommen war, vermochte er nicht zu sagen. Entweder hatte Kharun sein Gedächtnis verloren, oder er hatte seine traumatischen Erlebnisse bewusst verdrängt. Nur eines war ihm mit Sicherheit klar…die heiße Welt Hömun-yak war nicht seine Heimat.
Er träumte von einer schroffen Bergwelt in kühler, klarer Luft, von frostigen sternklaren Nächten und im Sonnenlicht glitzernden weißen Schneeebenen. Um die glühende Hitze von Hömun-yak zu ertragen, hatte er sich tagsüber in den Höhlen des einzigen noch bewaldeten Gebirges der uralten Wüstenwelt aufgehalten.
Mit seinem riesigen Flugwesen Darise, welches eines der letzten imposanten Exemplare seiner Art auf dieser Welt war, hatte er nur in der nächtlichen Kühle die einheimischen Volksstämme besucht, die ihm mit Nahrungsmitteln und Wasser aushalfen. Im Gegenzug stellte er seine geheimnisvollen Kräfte für viele Alltagsprobleme der einfachen Völker zur Verfügung. Obwohl diese ihn längst als einen der Ihren betrachteten, blieb er jedoch schon allein wegen seines exotischen, sehr fremdartigen Aussehens als einziger Vertreter seiner Rasse immer einsam.
Thora vermutete, dass Hömun-yak eventuell eine alte, vergessene Gefängniswelt war, wohin es eigentlich keinen Weg geben sollte und durfte. Die einheimischen Völkergruppen waren zu sehr mit ihrem täglichen Überlebenskampf beschäftigt und konnten in dieser Hinsicht keinerlei Informationen geben. Auch waren sie ausnahmslos davon überzeugt, schon seit jeher unter der Sonne von Hömun-yak zu leben und eine Existenz auf anderen Welten war für sie unvorstellbar.
Bei ihren regelmäßigen Besuchen in den Antiquariaten auf der Suche nach alten Buchschätzen hatte sie dieses beschädigte und an den Rändern rußgeschwärzte Verbindungsbuch im hintersten Regalwinkel entdeckt. Dem äußeren Zustand des Buches nach zu urteilen, hatte sie vermutet, dass es ursprünglich verbrannt werden sollte. Der Antiquar hatte zudem keine genaueren Angaben über die Herkunft des Buches machen können. Neugierig geworden hatte sie es daraufhin für einen geringen Preis erworben. Welches Geheimnis umgab dieses alte Verbindungsbuch?
Ihr Forscherdrang ließ keine Ruhe und nach entsprechenden Vorbereitungen hatte sie eine Reise in die heiße Wüstenwelt unternommen. Schon nach kurzer Zeit begegnete sie dort dem verzweifelten Kharun, der sie inständig bat, ihm und seiner exotischen Freundin zu helfen. Sie hatte sich auf ihr Gefühl verlassen und ohne lange zu überlegen, beide vorerst in ihrer kühlen Heimat aufgenommen. Und wenn Hömun-Yak nun wirklich eine
vergessene Gefängniswelt der D`ni war… welchem schweren Vergehen hatte Kharun sich schuldig gemacht, was eine Abschiebung dorthin gerechtfertigt hatte?
Kharun schien über erstaunliche und mysteriöse Fähigkeiten zu verfügen, worüber er sich jedoch nicht näher ausließ. Ihre Bemühungen, sich auf seine Psyche einzustellen, liefen bei Kharun ins Leere. Im Gegensatz dazu fühlte sie sich von den rätselhaften, schillernden Augen gnadenlos durchschaut.
Er war noch intensiv damit beschäftigt, sich auf seiner neuen Heimatinsel häuslich einzurichten und er fühlte sich dort sichtlich wohl, wie er ihr bei seinen letzten Besuch versichert hatte. Sie hatte ihm ein Verbindungsbuch nach Ae`gura besorgt, welches er nach langem Zögern schließlich benutzt hatte, um sich ein Bild von seiner derzeitigen Lebensumgebung zu machen. Seine Befürchtungen, wegen seiner fremdartigen Physiognomie eventuell Aufsehen zu erregen, hatten sich nicht bewahrheitet. Außer einem neugierigen Seitenblick hatte niemand von ihm Notiz genommen.
Seine unterschwellige Aggressivität hatte sich inzwischen weitgehend zu einer freundlichen und gelassenen Wesensart gewandelt. Dennoch blieb er der undurchschaubare geheimnisvolle Fremde, der von dem leidenschaftlichen Wunsch beseelt wurde, seine wahre Heimat wieder zu finden.
Thora seufzte leise…sie würde warten müssen, bis er die Zeit für gekommen hielt, über sich und seine Erlebnisse zu reden…jedenfalls soweit sie ihm wieder einfielen. Vorläufig war deshalb mit Kharun nicht zu rechnen…die Reise ins Unbekannte würde sie diesmal noch allein machen müssen. Jedoch hatte er für ihre bisherigen Forschungsreisen ein reges Interesse gezeigt und irgendwann würde er sie und die Forscherfreunde auf einer neuen Mission begleiten, dessen war sie sicher. Schon allein, weil er hoffte, dabei auf Spuren seines für ihn verschollenen Volkes zu stoßen.
Inzwischen war es vollständig dunkel geworden. Fröstelnd wandte sie sich um und betrat endgültig das Haus.
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