6. Welt Jenani
Nachdem ich nun schon über zwei Jahre Schreiberin war, wurde es nun wieder Zeit nach D’ni zurückzukehren und meinem Lehrer und Gildenmeister Athelstan Bericht zu erstatten. Ich benutzte mein Verbindungsbuch in die Höhlen und kam am großen See an. Ein Boot stand am Ufer bereit und ich stieg sogleich ein und ruderte in den großen Hafen. Ich grüßte die Hafenarbeiter und machte mich dann auf den Weg ins Stadtinnere zu dem großen Gildenhaus der Schreiber. Trotz großartiger Restaurationsarbeiten war immer noch die Verfallenheit zu sehen. Ich fragte mich immer wieder wie diese Stadt in ihrer einstigen Pracht ausgesehen haben musste. Über dem Gildenhaus der Schreiber war das Symbol der Gilde – die goldene Feder auf dem roten Grund – zu sehen. Ich trat ein und kam in den Vorraum, wo ein Schreibtisch und einige Regale standen. Ein Gang führte zum Klassenzimmer, wo offensichtlich gerade Unterricht stattfand. Ich erinnerte mich meiner Lernzeit mit den wenigen anderen Leuten, welche die harte Aufnahmeprüfung bestanden hatten. Die Lehrer konnten heute auch nicht mehr das lehren, was einst die D’ni gelehrt hatten, da viele Informationen über die „Kunst“ verlorengegangen waren. Wir konnten froh sein, dass überhaupt noch die Möglichkeit bestand die „Kunst“ zu lernen und das wir tatsächlich Verbindungen zu Welten herstellen konnten.
Am Schreibtisch saß Athelstans Assistent Horan und korrigierte die Arbeiten der Schüler. Ich ging auf ihn zu und sagte: „Shorah, Horan. Wie sehen die Arbeiten der Schüler aus?“ Horan blickte überrascht auf und lächelte mich dann etwas müde an. „Sie sind vielversprechend, aber noch sehr fehlerhaft. Sie sind gerade erst dabei ihr erstes Jahr abzuschließen. Ich freue mich dich wiederzusehen, Hitana. Wie kommst du zurecht?“ „Ich habe ziemlich große Fortschritte gemacht. Ich möchte Meister Athelstan gerne meine Aufzeichnungen der Zeitalter zeigen, zu denen ich Verbindung erlangt habe, aber wie ich sehe ist er gerade beschäftigt.“ „Die Stunde ist bald zu Ende. Erzähle mir doch inzwischen, wie es dir ergangen ist!“ Ich lächelte und sagte: „Du kannst gerne nachher dabei sein, wenn ich mit Meister Athelstan rede. Korrigiere nur weiter die Arbeiten, ich werde mich ein wenig umsehen.“
Wenige Zeit später läutete die Stundenglocke und die Schüler strömten aus dem Gildenhaus. Sie gehörten zu dem ersten Jahrgang von Kindern, die hier aufgewachsen waren und jetzt die „Kunst“ lernten. Viele Klassen bestanden aber aus älteren Leuten wie mir, die mehr Lebenserfahrung und Weisheit besaßen, allerdings im Gegensatz zu den Kindern noch unter anderen Bedingungen gelebt hatten. Meister Athelstan trat als letzter aus dem Klassenraum und sah mich sofort mit einem strahlenden Lächeln an. Wir begrüßten uns auf die traditionelle Art der D’ni. „Es ist schön dich wiederzusehen, Hitana. Ich danke dir, dass du meiner Bitte nachgekommen bist und nun gekommen bist, um mir deine Ergebnisse zu zeigen. Komm Horan, du hast genug gearbeitet. Hören wir uns Hitanas Bericht an!“ Die nächsten Stunden verbrachte ich damit ihnen alles zu erzählen, was ich getan und erlebt hatte. Oft machten sie erstaunte Gesichter, manchmal runzelte Athelstan die Stirn, und sie hörten die ganze Zeit konzentriert und gespannt zu. Als ich geendet hatte, nickte Athelstan nachdenklich und bat Horan einen Moment mit mir unter vier Augen reden zu können. Horan entfernte sich und Athelstan sagte: „Du hast wirklich gute Fortschritte gemacht, aber ich muss sagen, dass ich nicht mit allen Entscheidungen einverstanden bin, die du getroffen hast. Besonders deine Taten in Genovai missfallen mir. Wie oft habe ich dich und die anderen gelehrt, dass Krieg und Gewalt stets vermieden werden sollen?!“ „Hört mich an, Meister Athelstan, ich bitte Euch! Ich habe diese Entscheidung stets bereut, besonders als ich selbst eine Niederlage miterleben musste. Doch mit meiner Entscheidung habe ich einen sinnlosen, verlustreichen Krieg verhindert und stattdessen nur wenige Verluste erlitten und wenige Menschen töten lassen. Vielleicht hätten die Menschen aus Tengolu eines Tages einen Krieg angefangen, den sie auf jeden Fall verloren hätten. Dabei hätten sie nicht nur die wirklichen Schuldigen, sondern auch alle, die weiter Anhänger des Grendan blieben, umgebracht. Ich habe durch meinen Plan ein Massaker verhindert und den Menschen Gerechtigkeit und ein gutes Leben gegeben. Als ich sah, wie befreit die Menschen nach dem Sturz des Königs waren, wusste ich das meine Entscheidung letztlich nicht falsch gewesen war.“ Er nickte wieder nachdenklich und meinte: „Ich hoffe nur, dass so etwas nie wieder geschieht. Sei in Zukunft bitte etwas vorsichtiger und weniger impulsiv. Ich kann dich verstehen und hätte in deinem Alter wahrscheinlich nicht anders gehandelt, aber es ist dennoch falsch. Nun, dieses Mal werde ich dich nicht bestrafen, sollte dies aber noch einmal geschehen, werde ich einige Maßnahmen ergreifen müssen. Gib mir bitte deine Aufzeichnungen, ich werde sie durchlesen, um mir ein besseres Bild deiner Welten zu machen. Vielleicht kannst du mich auch eines Tages einmal mitnehmen. Übernachte doch einige Tage hier bis ich fertig bin.“ Ich bedankte mich für das Gespräch und zog mich zurück. Ich nahm mir ein Zimmer in einem Gasthaus und schlief einen ruhigen Schlaf. In den nächsten Tagen streifte ich durch die Stadt und traf alte Freunde. Ich benachrichtigte Horan, wo ich wohnte und bekam nach einer Woche die Nachricht, dass Meister Athelstan meine Aufzeichnungen gelesen hatte. Ich ging also wieder zu ihm und nahm die Bücher entgegen. Dann verabschiedete ich mich mit dem Versprechen wiederzukommen und kehrte in mein Relto zurück.
Endlich hatte ich die Zeit mit der Beschreibung für eine neue Welt zu beginnen, deren Idee mir wie so viele andere in Genovai gekommen war. Beinahe hatte ich zu viele Ideen und musste mich erst einmal entscheiden, welche ich als erstes in Angriff nehmen wollte. Bald stand aber für mich fest, welche es sein sollte. Und so setzte ich mich an den Schreibtisch und begann zu schreiben.
Ich brauchte vier Wochen, bis ich die Welt, welche ich „Jenani“ nannte. Ich packte meine Sachen und verband mich. Seltsamerweise roch ich Jenani bevor ich es sah. Ich roch die Feuchte von Regen und den Duft nasser Erde. Als ich die Augen öffnete, stand ich in einem Urwald mit Farnen, Büschen, farbenfrohen Blumen und seltsam geformten Früchten. Aus der Erde ragten dicke Bäume bis in den Himmel und überall war das Zwitschern, Trällern, Kreischen und Pfeifen von Vögeln zu hören. Ich hörte ein Rascheln und drehte mich schnell um, doch es war nichts zu sehen. Ich fühlte mich seltsamerweise beobachtet, aber von wem oder was? Ich nahm den Bogen, welchen ich jetzt stets bei mir trug von der Schulter und legte einen Pfeil an. Ich wusste nicht, was mich hier erwartete und wollte daher sicher gehen. Langsam schlich ich mich so leise wie möglich durch den Wald und sah mich dabei aufmerksam um. Manchmal sah ich einen farbenfrohen Vogel aus einem Nest in einer der Pflanzen, welche an den Bäumen wuchsen, auffliegen und teilweise meinte ich etwas ins Gebüsch huschen zu sehen. Auf den teilweise ziemlich großen Blumen saßen seltsame Insekten mit schillernden Panzern. Es war nicht besonders hell hier unten und ich hatte Schwierigkeiten weit zu sehen. Angespannt und bereit jederzeit zu handeln streifte ich durch den Wald, hatte aber den ganzen Tag lang keine Begegnung mit gefährlichen Wesen. Es regnete den restlichen Tag nicht mehr und ich fand außer den erstaunlichen Pflanzen, welche ich sah, nichts weiter besonderes. Als es dunkel wurde schlug ich mein Zelt auf und zündete vorsichtshalber ein Feuer an. Durch ein kleines Fenster im Zelt konnte ich sehen, ob draußen irgendetwas geschah. Die Tiere, welche sich jetzt auf die Suche nach Nahrung machten, gingen einen großen Bogen um mein Feuer, so dass ich nichts befürchten musste. Am nächsten Tag erwachte und sah durch das Fenster, dass es in Strömen regnete. Ich zog meinen Regenmantel an, brach mein Lager ab und zog weiter. Der Regen ließ zum Glück bald nach und ich konnte sehen, wie verschiedene Weichtiere und Reptilien aus der Erde und den Büschen hervorkrochen, um die Feuchtigkeit, welche sie so sehr liebten, zu genießen. Ich kniete mich nieder und nahm mein Tagebuch heraus, um die Wesen aufzuzeichnen. Später konnte ich auch einen genaueren Blick auf einige andere Wesen erhaschen und schnelle Skizzen von ihnen anfertigen. Eines sah wie ein Biber mit ziemlich langen Ohren aus ein anderes wie ein winziges Pferd, dass ein hellgelbes Fell mit schwarzen Punkten hatte.
Wieder fühlte ich mich beobachtet und hörte es Rascheln, sah aber nichts. Die Gegend veränderte sich kaum und ich ließ meinen Blick auf der Suche nach Wesen schweifen. Als ich meinen Blick wieder der Richtung, in die ich lief zuwandte, blieb ich wie angewurzelt stehen und spannte meinen Bogen. Etwa zehn Meter vor mir stand eine Gestalt völlig reglos mit erhobenen Armen, in denen sie ein Beil und ein Messer hielt. Durch das schlechte Licht konnte ich jedoch nicht das Gesicht sehen. Langsam ging ich auf die Gestalt zu, den Pfeil direkt auf ihren Kopf gerichtet. Seltsamerweise blieb die Gestalt weiterhin reglos stehen. Ich runzelte die Stirn und trat noch näher heran. Die aufkommende Erkenntnis ließ mich aufatmen, aber das Gesicht, welches ich sah, ließ mich frösteln. Die Gestalt war eine Figur aus Holz, vielleicht ein Wächter, mit Fangzähnen so spitz wie bei Fledermäusen, an denen getrocknetes Blut klebte und einem drohenden Gesichtsausdruck und böse dreinschauenden Augen. Nun stand schon einmal fest, dass auch hier menschliche Wesen gab, die aber offensichtlich nicht gerade freundlich zu sein schienen. Ich war froh meinen Bogen dabei zu haben und wusste jetzt worauf ich mich gefasst machen musste.
_________________ Nil tam difficile est, quin quaerendo investigari possiet
Hitana Mikoyan (SL) , Hitana Jadurian (GW)
Zuletzt geändert von Hitana am 16.06.2006 - 14:35, insgesamt 1-mal geändert.
|